„Die Gabe“ von Naomi Alderman

Buchcover "Die Gabe" von Naomi Alderman, Heyne Verlag

Die Gabe„* kommt schon mit dem Label, ein Roman zu sein, der zu den besten Büchern gehört, die Barack Obama 2017 gelesen hat; Zusätzlich zu wissen, dass die bekannte Schriftstellerin Margaret Atwood (einem breiteren Publikum vielleicht bekannt durch die Verfilmung ihres Romans „Der Report der Magd„*, der die Unterdrückung der Frau in einem entmenschlichten, totalitären Männerregime thematisiert), seit 2012 Naomi Aldermans Mentorin ist: All dies lässt schon viel Spannendes zwischen den Buchdeckeln erahnen.

 

Rezension von „Die Gabe“

Das Buch der Londoner Autorin Alderman begleitet erzählerisch eine zehnjährige Eskalationsspirale, während der die Welt immer mehr dem Irrsinn zu verfallen scheint. Zu Beginn können junge Mädchen durch eine genetische Mutation plötzlich mit ihrem Körper so starke Stromschläge erzeugen, dass sie durch Berührungen sogar töten können. Diese „Gabe“ kann durch Mädchen auch in älteren Frauen gestartet werden.
Über Nacht hat sich die Welt verkehrt: Nicht Frauen müssen sich nachts in dunklen Gassen vor Vergewaltigung ängstigen, sondern Männer. Die weltweite Gesellschaftsordnung wird innerhalb nur weniger Jahre radikal umgekrempelt. Frauen gelten jetzt als das starke Geschlecht und strahlen Autorität und Stärke aus, Jungen und Männer sind schützenswert, weich, gelten als weniger bedrohlich. (Das ist auch eine Triggerwarnung für die zahllosen Gewalt- und Vergewaltigungsszenen in dem Buch.)

 

Buchcover "Die Gabe" von Naomi Alderman, Heyne Verlag„Die Gabe“ – eine Studie über Machtstrukturen

Wer sich an Gerd Brantenbergs bekanntes Werk “Die Töchter Egalias”* von 1979 erinnert fühlt, hat durchaus recht, „Die Gabe“ ist aber weitaus ausgefeilter und noch dystopischer als diese Spiegelwelt. Was als Empowerment der Frauen beginnt, entwickelt sich zu einer Studie über Macht, Machtstrukturen und Machtmissbrauch.

Die Entwicklung wird hauptsächlich anhand der Erzählung rund um vier Hauptfiguren sichtbar gemacht: Roxy, die harte, illegitime Teenagertochter eines Londoner Gangster-Bosses mit weltumspannenden Kontakten, die mit ansehen muss, wie ihre Mutter brutal ermordet wird. Allie (die spätere „Mother Eve“ und religiöse Anführerin) in den USA, die jahrelang von ihren erzchristlichen Adoptiveltern mit Schlägen und Vergewaltigung „erzogen“ wird. Der junge Nigerianer Tunde, der zu „dem“ journalistischen Begleiter der radikalen Weltveränderung durch die Gabe wird. Besonders seine Prozesse der inneren Wandlung sind spannend zu lesen. Und letztlich Margot, Mutter zweier Teenagertöchter und zu Beginn Bürgermeisterin einer US-amerikanischen Großstadt, die sich entschlossen bis in die höchsten Entscheidungskreise hocharbeitet.
Feinsinnig spürt Naomi Alderman Beweggründe auf; delikat zeichnet sie ihre Figuren und deren Empfindungen – eine explosive Melange aus Macht, Gier, Gewalt, Scham, Verlangen, Sehnsucht und großen Visionen, die trotz aller guter Absichten (wie so oft in der Menschheitsgeschichte) voll vor die Wand gefahren werden. Weitere Zutaten neben den beleuchteten Hauptpersonen sind: Forentrolle, Verschwörungstheoretiker, Militär, Bürgerkriege und militärische Konflikte, misogyne Männerrechtler, Frauen, die systematisch unterdrückt, misshandelt und/oder benachteiligt werden, religiöse Fanatiker, falsche Propheten, geistig abdrehende Staatsoberhäupter im Cäsarenwahn, festzementiert erscheinende Rollenmuster. Alderman greift hier Elemente auf, die auch unsere Realität gerade zu einem explosiven Gemisch machen.

Es ist ein absolut fesselndes Werk, das einen wie ein Orkan packt und am Ende zunächst etwas benommen, orientierungslos und mit viel Denkarbeit zurücklässt. Eine Spiegelerzählung, die für viele hoffentlich zum unbequemen Augenöffner für die Brutalität und Gewalt wird, der sich Frauen tagtäglich gegenübersehen. Die Geschichte macht deutlich, wie sehr wir Gefangene unserer anerzogenen kulturellen Vorstellungen sind, dabei ist keines der Geschlechter besser oder schlechter zur Weltherrschaft geeignet als das andere – jede/r Mensch ist korrumpierbar vom Virus Macht. Bei aller Gewaltorgie ist dieser Roman im Grunde begreifbar als ein massiver Appell an die Menschheit, die hinfälligen Rollenmuster zu überdenken und sich weiterzuentwickeln, hin zu einer Chancen- und Wertegleichheit der Geschlechter.

Und wie immer gilt: Wer kann, sollte bei aller Übersetzer*innenkunst im Original lesen. Auf Englisch ist Naomi Aldermans Werk unter dem Namen „The Power„* zu finden.

Naomi Alderman
Die Gabe*
Heyne, 2018
ISBN: 978-3453319110
480 Seiten, 16,99 Euro

*Werbung. Affiliate-Link zu Amazon. Bei einem Kauf hierüber erhalte ich eine geringe Beteiligung. Danke für die Unterstützung.

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